Der Cthulhu-Mythos

Im Februar 1928 veröffentlichte das legendäre amerikanische Horrormagazin Weird Tales Howard Phillips Lovecrafts Geschichte ›The Call of Cthulhu‹ (Cthulhus Ruf). In dieser Erzählung berichtet der Ich-Erzähler, dass er die Hinterlassenschaften seines verstorbenen Großonkels George Gammell Angell, Professor für semitische Sprachen an der Brown-University in Providence, Rhode Island, sichtet. Dabei findet er ein seltsames Flachrelief aus Ton, auf dem ein Monster oder eine Art Tintenfisch und unbekannte Schriftzeichen zu sehen sind. Daneben liegt ein Manuskript in der Handschrift seines Großonkels, das mit »Cthulhu-Kult« überschrieben ist. Der Text ist in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste enthält Berichte über merkwürdige Träume verschiedener Personen und einige Zeitungsausschnitte, die »auf Fälle von extremem Wahnsinn und das Auftreten von Massenpsychosen oder Manien im Frühjahr 1925« hinweisen. Diese Berichte werden nun »zitiert« – und schon sind wir mittendrin in einer typischen Lovecraft-Erzählung der literarischen Scheinwissenschaft.

Alle Hinweise und Dokumente führen zu einer Insel im Pazifik, wo er hausen soll: Cthulhu – eine Kreatur aus den Weiten des Weltalls, einer der ›Großen Alten‹. Diese Rasse von Außerirdischen soll unseren Planeten bereits besucht haben, als sich die Erdkruste gerade abgekühlt hatte und die ersten Bakterien noch in der Ursuppe tanzten. Cthulhus Körper scheint eine gewisse ähnlichkeit mit einem Kraken zu besitzen, so muss man anhand diverser, aus vielen Ländern zusammengetragener kultischer Gegenstände schließen, allerdings scheint er weit mehr als nur acht Arme zu haben, und über seine Größe sollte man besser nicht nachdenken …

1928, nach der Veröffentlichung dieser Geschichte – die Idee dazu hatte Lovecraft bereits im Mai 1920 gehabt, nachdem er aus einem sehr lebhaften Traum erwacht war – wurde in der ganzen Welt der Ruf des Cthulhu vernommen, die Erzählung wurde eine der einflussreichsten der modernen fantastischen Literatur. Viele, viele Autoren haben Motive aus der lovecraftschen Schöpfung entnommen, um sie in eigenen Geschichten zu benutzen. Schon Lovecrafts Freunde woben an dem Stoff weiter – Lovecraft selbst animierte sie dazu, und er hatte seinen Spaß daran, eine literarische Mythologie zu entwickeln und sie mit weiteren Wesen wie Yog-Sothoth, Nyarlathotep oder dem blinden Idiotengott Azathoth zu bevölkern. Sogar die Namen seiner Schriftstellerfreunde durchliefen seltsame Metamorphosen: aus Clark Ashton Smith wurde Klarkash-Ton, aus Robert E. Howard machte er Ar-I-Ech und Duane Rimel mutierte zu Rhi'-Mhel. Lovecraft hatte einen Heidenspaß an solchen Spielchen und nahm sich selbst natürlich nicht aus: E'ch-Pi-El nannte er sich. Einige dieser Verballhornungen tauchen sogar in seinen Geschichten auf. Lovecrafts Freunde wiederum erfanden neue Dämonengötter und kleinere Zutaten zur Cthulhu-Mythologie.

Als Lovecraft 1937 starb, ahnte er nicht, was für eine Welle er mit seinen Geschichten ausgelöst hatte. Quasi alle nachfolgenden Autoren des fantastischen Genres wurden durch Lovecraft angeregt, die Liste ist endlos: Robert Bloch, Henry Kuttner, Lyon Sprague de Camp, Stephen King, Brian Stableford, Gene Wolfe, Chet Williamson, Fritz Leiber, David J. Schow, Neil Gaiman, Michael Marshall Smith, Brian Lumley, Karl Edward Wagner, Brian McNaughton, Alan Dean Foster, T. E. D. Klein, Julio Cortazar, John Skipp, Joanna Russ, Fred Chappell, Douglas Clegg, Bruce Sterling, Lin Carter, Roger Zelazny, Harlan Ellison, Umberto Eco, Arno Schmidt, H. C. Artmann, Colin Wilson, Ramsey Campbell und natürlich Wolfgang Hohlbein …

Die entscheidende Frage ist aber nicht, wer alles Cthulhu-Geschichten schrieb, sondern warum Schriftsteller überhaupt solche Motive aufgreifen. Was treibt sie dazu, die Geschichten eines längst verstorbenen Schriftstellers weiterzuspinnen?

Die Antwort ist einfach: Besonders junge Autoren, denen noch die eigene Stimme fehlt und deren Erfahrungshorizont nicht groß ist, fühlen sich von dieser literarischen Spielwelt angezogen – und ist es in diesem Zusammenhang nicht interessant, dass es Rollen- und Computerspiele zum Mythos gibt, also das Medium der jungen Menschen, die Call of Cthulhu betitelt sind?

Ein kurzer Blick in die Biografien und Bibliografien der Cthulhu-Geschichten-Verfasser gibt mir Recht. Die Amerikaner Fritz Leiber und Robert Bloch – beide waren übrigens noch Brieffreunde von Lovecraft – schrieben in der frühen Phase ihrer Karrieren eine Reihe solcher Geschichten. Später widmeten sie sich anderen Themen; Leiber wurde ein sehr bekannter Science-Fiction- und Fantasy-Autor, Bloch erlangte Weltruhm mit dem von Alfred Hitchcock verfilmten Roman Psycho.

Der Engländer Ramsey Campbell war einer der fleißigsten Schreiber von Cthulhu-Geschichten. 1946 geboren, veröffentlichte er im zarten Alter von sechzehn Jahren sein erstes Buch: The Inhabitant of the Lake and Less Welcome Tenants (1964, Arkham House, Sauk City, Wisconsin). Es waren allesamt Huldigungen an Lovecraft. Auch in späteren Jahren vergaß Ramsey Campbell seine literarischen Wurzeln nicht.

ähnlich verhält es sich mit Brian Lumley, der als junger Autor neben dutzenden Storys sogar zwei Roman-Zyklen in der Welt des Cthulhu-Mythos ansiedelte, nämlich sechs Romane um den Helden Titus Crow und vier Bände der Dreamland-Saga. Später, und bezeichnenderweise erst, als er sich vom literarischen Einfluss seines Idols befreite, wurde er durch seine Vampir-Serie Necroscope zum Bestsellerautor. Doch auch heute noch, als alter Hase im Literaturbetrieb, frönt er hin und wieder mit einer Kurzgeschichte seiner Lovecraft-Lust.

Man kann die Autoren des Cthulhu-Mythos in drei Kategorien einordnen. Zunächst einmal seien die Armeen junger Autoren genannt, die in Fan-Magazinen ihre Geschichten über das »namenlose Ding aus der Tiefe mit den tausend Schatten« veröffentlichen und deren Namen nie im Inhaltsverzeichnis irgendwelcher Bücher auftauchen werden. Ihre Texte seien »lovecraftischer als Lovecraft selbst«, bemerkte Dirk W. Mosig einmal. Diese Werke gehören in die Kategorie schlichter Lovecraft-Imitationen, die versuchen, durch das Kopieren von Stil und Handlungsgerüsten die literarischen Effekte zu erzielen, die ihr Vorbild erreichte – man sollte nämlich bei der scheinbaren Trivialität des Themas nicht vergessen, dass Lovecraft einer der talentiertesten Schöpfer unheimlicher Literatur war –, und die im Stadium ungewollter Parodien alle so kläglich versagen.

In eine weitere Kategorie kann man die anspruchsvollen Nachahmer einreihen, die zwar oft den Lovecraft-Stil kopieren, die aber durch Talent und originelle Ideen aus der ersten Gattung hervortreten, so der junge Ramsey Campbell, August Derleth, Lin Carter, Basil Copper, Robert Bloch, Brian Lumley oder Lin Carter.

In eine dritte Gruppe der Lovecraft-Imitatoren kann man die Texte einiger herausragender Schreiber einreihen, die auf jedes Nachäffen verzichten und die sich auf ihre eigenen Stimmen konzentrierten, so etwa Ramsey Campbell seit Ende der sechziger Jahre, Fred Chappell, Thomas Ligotti oder T. E. D. Klein.

Der Text wurde von Frank Festa verfasst und dem Buch »Die Saat des Cthulhu« entnommen.
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